Kralle

Kralle wurde nicht als Streuner geboren, sondern in der Obhut von Zweibeinern, die ihn als Kater für seine imposante Erscheinung und sein prachtvolles silbergraues Fell schätzten. Sie hatten ihn als kleines Kätzchen gefunden, aufgezogen und sich herzlichst um ihn gekümmert. Was er nicht weiß, ist das er von seinen vorherigen Besitzern ausgesetzt worden ist, da seine Eltern zu viele Katzenjungen gezeugt hatten, doch dies trägt nichts weiter zu der Vergangenheit von Kralle bei. Sein Leben bei den Zweibeinern war ruhig, fast schon eintönig, und obwohl er niemals hungern musste, fühlte er sich mit zunehmenden Alter eingesperrt und unterfordert. Der geregelte Alltag, das Leben in einem warmen, aber begrenzten Zuhause – es war nicht das, wonach sein Herz suchte. Seine langen Krallen, die sich nie richtig abnutzen konnten, und seine beeindruckende Körperkraft wurden in einem Leben hinter Fenstern und Türen verschwendet, in Räumen, die ihm nicht gerecht wurden.

Wann immer sich eine Tür oder ein Fenster öffnete, regte sich in ihm immer mehr der Wunsch nach Freiheit, nach der ungezähmten Wildnis, die er aus dem Fenster heraus beobachten konnte. Diese Sehnsucht wuchs mit jedem Mond, und irgendwann entschied er, dass er mehr wollte als ein Dasein als Hauskater. Auch wenn er seine Zweibeiner liebte, interessierte es den Jungkater damals viel mehr, was außerhalb des Hauses auf ihn wartete.

Eines Tages ergab sich die Gelegenheit: Ein Fenster stand offen, und Kralle nutzte sie ohne zu zögern. Die ersten Tage in der Freiheit waren überwältigend. Er musste lernen, wie man jagt, wie man sich in der Wildnis zurechtfindet und wie man mit der rauen Realität des Lebens ohne die Annehmlichkeiten eines Zweibeinerhauses umgeht. Doch statt ihn zu entmutigen, weckten diese Herausforderungen seinen Instinkt und schärften seine Fähigkeiten. Seine Stärke und sein scharfer Verstand halfen ihm, schnell zu überleben – und bald sogar zu gedeihen.

Kralle streifte durch Wälder und Wiesen, lernte, auf sich selbst zu vertrauen, und fand Freude daran, sich in der Freiheit zu beweisen. Seine langen Krallen, die zuvor ungenutzt geblieben waren, wurden zu einem seiner größten Vorteile im Kampf und bei der Jagd. Bis jetzt begegnete er kaum anderen Katzen außerhalb. Bis er eines Tages zwei Streuner fand, die für ein paar Sonnenaufgänge mit ihm verweilten. Nur ein paar Sonnenaufgänge, denn... sie fanden einen alten Fuchsbau, in dem es allerdings nach Hund stank. Da es so kalt war und der Bau gut geschützt, entschieden sie sich trotzdem darin zu verweilen. Nur für ein paar Sonnenuntergänge, vereinbarten sie. Als Kralle schlief und seine zwei Wegbegleiter auf Jagd waren, traf der vorherige Baubesitzer wieder ein und verscheuchte Kralle nach einem erbitterten Kampf doch erfolgreich. Seine Wegbegleiter, die zwei Streuner Katzen sah er nie wieder.

Obwohl er die Freiheit liebt, spürt Kralle manchmal die Einsamkeit, die mit seinem Leben einhergeht. Er entschied sich in der Blattleere sein altes Haus zuhause aufzusuchen und die Zweibeiner wieder zu finden, die ihn so großartig umsorgt hatten. Als er wieder an ihrer Haustür stand, machte jedoch keiner auf. Sonnenuntergänge vergingen, Sonnenaufgänge... doch keiner erschien. Es war leise. Als wäre niemand da. Auch durch die Fenster konnte er nichts sehen. Waren sie verschwunden? Kralle schaute noch einige Male vorbei, doch mit zunehmender Zeit immer weniger. Er sucht nach einem Platz, der ihm nicht nur Freiheit, sondern auch Gemeinschaft bietet – doch dafür muss er noch den richtigen Weg finden. Seit dem er auf ein paar Katzen traf, die sich mit ihm zu einer Gruppe zusammenschlossen, hat er das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie nennen sich die Schattenläufer. Kralle übernahm die Rolle des Sprechers für sie und hat ein Auge, auf alles was innerhalb des kleinen Trüppchen passiert.